„Fidesz hat die Macht komplett einbetoniert“ – Dr. Sonja Priebus über die anstehende Parlamentswahl in Ungarn

Am kommenden Sonntag, dem 3. April 2022, wird in Ungarn ein neues Parlament gewählt. Viadrina-Politikwissenschaftlerin Dr. Sonja Priebus ist in Ungarn aufgewachsen und forscht über den Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in dem Land. Im Interview spricht sie über die Chancen von Viktor Orbán, erklärt, welche Rolle der Krieg in der Ukraine im Wahlkampf spielt und warum viele Ungarn sich wenig für Politik interessieren.

Frau Priebus, wie sind Viktor Orbáns Chancen einzuschätzen, auch nach der Wahl am Sonntag in Ungarn den Ton anzugeben und welche Chancen hat das Oppositionsbündnis, das gegen ihn antritt?
Das Oppositionsbündnis ist ein historisch einmaliger Schritt. Sechs Parteien habe sich in dem Bündnis „Einheit für Ungarn“ zusammengeschlossen – das erhöht die Chancen der Opposition natürlich signifikant. Aber dennoch wird es für die Opposition schwer. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Regierungspartei Fidesz-KDNP mit zwei Prozent führt. Das Rennen ist also sehr knapp und die Frage ist, welche Seite noch Wählerinnen und Wähler mobilisieren kann. Dafür hat die Regierungsseite wesentlich bessere Voraussetzungen, weil ihre finanziellen Möglichkeiten größer sind, außerdem hat sie die Kontrolle über die Medien. Man muss auch wissen, dass die Regierung das Wahlsystem und die Wahlkreis-Zuschnitte in den vergangenen Jahren so gestaltet hat, dass es sie begünstigt.

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Dr. Sonja Priebus ist seit Oktober 2021 akademische Mitarbeiterin an der Professur für Europa-Studien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören der Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedsstaaten der EU und Handlungsoptionen der Europäischen Union sowie das politische System Ungarns seit 1989.


Welche Rolle spielt der Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine im ungarischen Wahlkampf?
Der Krieg steht derzeit im Fokus. Der Wahlausgang hängt vor allem davon ab, welche Seite den Krieg besser für den eigenen Wahlkampf benutzen kann. Die Regierung baut momentan auf das Argument, dass sie Garanten für Frieden sind, während die Opposition auf der Seite des Krieges stehen würde. Der Opposition wird unterstellt, dass sie sich aktiv einmischen und Waffen sowie Soldaten in die Ukraine schicken würde. Das läuft auf eine Wahl zwischen Krieg und Frieden hinaus.

Sollte sich die Opposition durchsetzen, welche Zukunft sehen Sie dann für Ungarn?
Selbst wenn es zu einem Wechsel kommen würde, wird es die jetzige Opposition definitiv sehr, sehr schwer haben, denn Fidesz hat in den vergangenen Jahren die Macht komplett einbetoniert. Strategische Posten wurden mit eigenen loyalen Leuten besetzt. Das fängt an bei der neu gewählten Staatspräsidentin, die für fünf Jahre gewählt wurde, über den Präsidenten der Medienbehörde, der letztes Jahr auf neun Jahre vom Staatspräsidenten ernannt wurde, bis zu den Staatsanwaltschaften und dem Verfassungsgericht. Die Opposition spricht von einem „Deep State“, also einem Netzwerk, das im Hintergrund auch über die Regierungszeit hinaus die Fäden ziehen kann.

Was ist zu erwarten, wenn Fidesz-KDNP sich durchsetzt?
Ich fürchte, es wird zu weiteren Einschränkungen kommen. Der Handlungsspielraum der Opposition und der Medien, der Wissenschaft und der Kultur wird weiter eingeschränkt. Die Regierung wird Mittel und Wege finden, um auch die letzten Bastionen der Freiheit einzunehmen. Die Frage ist, wie weit die Regierung gehen kann, insbesondere, weil sie keinen kompletten Bruch mit der EU herbeiführen möchte.

Die Regierung macht mit einem Referendum, das auch am Sonntag durchgeführt wird, zusätzlich LGBT-Themen zum Wahlkampf. Was steckt dahinter?
In dem sogenannten Kinderschutzreferendum werden vier Fragen gestellt, mit denen die Regierung suggeriert, dass bestimmte LGBTQ-Communitys Kinder schon im Kindergarten dazu bewegen, eine Geschlechtsumwandlung vorzunehmen bzw. diese aktiv propagieren würden. Das Thema dient dazu, wieder einen Feind zu kreieren. Nach der EU und den Flüchtlingen zieht man nun die LGBTQ-Community als Ausdruck der westeuropäischen, liberalen Haltung als Sündenbock heran. Hintergrund hierfür war die Verabschiedung des sogenannten Pädophilie-Gesetzes im Juni 2021, welches Pädophilie bewusst mit Homosexualität und Transsexualität vermischt und damit letztendlich die LGBTQ-Community kriminalisiert. Die Europäische Kommission hatte daraufhin im Juli 2021 zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, worauf wiederum die Regierung das besagte Referendum ankündigte. Ein erfolgreiches Referendum soll so in erster Linie auch ein Signal an die EU sein.

Wie ist der Weg Ungarns zu immer weniger Demokratie zu erklären?
Ungarn galt 1989 als Demokratisierungs-Vorreiter. Es war 1989 eines der ersten Länder, welches demokratische Reformen und Liberalisierungsschritte eingeleitet hat. Der Beitritt zur Europäischen Union war eine Rückkehr nach Europa. Die Frage ist, warum die Menschen so passiv sind und nicht dagegen aufbegehren, wenn Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beschnitten werden. Das ist übrigens auch ein großer Unterschied zu Polen. Dort haben wir sehr oft Proteste, die sich an konkreten Maßnahmen der Regierung entzünden. In Ungarn gibt es das wenig. Das liegt daran, dass viele politisch nicht interessiert sind, auch Menschen mit Hochschulabschluss nicht. Politik gilt als schmutziges Geschäft, mit dem man nichts zu tun haben will.

Hinzu kommt, dass die Regierung die Kontrolle über die Medien hat, und eine Art Gehirnwäsche stattfindet. Schließlich sorgen die niedrigen Löhne und die hohen Preise dafür, dass es vielen erstmal ums Überleben geht; Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind für viele zweitrangig.

(FA)

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