100 Jahre Scheunenviertel-Pogrom – Stadtführung zum Abschluss eines Seminars mit dem Centrum Judaicum

Am 5. November 1923 wurden in Berlins Zentrum jüdische Geschäfte gestürmt, Passantinnen und Passanten verprügelt, Schaufenster zerschlagen, Kassen geplündert. Anlässlich des 100. Jahrestages vom heute fast vergessenen Scheunenviertel-Pogrom führten Studierende der Viadrina am 5. November 2023 durch Berlins Mitte. Ihre Vorträge sind die Ergebnisse eines Seminars, das Dr. Darja Klingenberg und Prof. Dr. Stephan Lanz in Kooperation mit dem Centrum Judaicum veranstaltet hatten.

Es war ein Gewaltausbruch vor dem Hintergrund lange gewachsener Vorurteile: Die Ausschreitungen vom 5. November 1923 fanden in einer Zeit statt, in der sich über viele Jahre Ressentiments gegenüber Jüdinnen und Juden, osteuropäischen Geflüchteten und Prostituierten ausgebildet hatten. Sie und andere marginalisierte Gruppen waren zu Hause in der ärmlichen, sehr eng und divers besiedelten Gegend nördlich vom Berliner Alexanderplatz, in der heute der Tourismus tobt und Theater, hippe Cafés und Hochglanz-Läden das Straßenbild prägen. Was die Studentinnen auf dem zweieinhalbstündigen Spaziergang zwischen der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße erzählen, lässt ein anschauliches Bild von der Gegend und der Zeit entstehen – und erinnert auch manchmal erschreckend an aktuelle Entwicklungen.

In dem Seminar „Spurensuche: Jüdische und andere Berliner*innen in der Spandauer Vorstadt“ hatten sich die Studierenden ein Semester lang damit beschäftigt, warum die Geschichte des Scheunenviertel-Pogroms kaum noch sichtbar ist, welche Spuren von der damaligen Lebenssituation sich heute noch finden lassen und was die Erfahrungen von damals mit der heutigen Migrationsgesellschaft zu tun haben. Dieser Brückenschlag gelingt – mal ausgesprochen, mal nur angedeutet – auf der Führung sehr eindrücklich. Etwa, wenn Matthea Kiesant über die Rolle der Polizei berichtet, die im sogenannten Scheunenviertel schon seit den 1910er-Jahren mit ständigen Razzien und Kontrollen präsent ist – dann aber, am Tag der ausbrechenden Gewalt, tatenlos zuschaut und schließlich die verhaftet, die den Opfern zu Hilfe kommen wollen. Andauernde Hetze und Verunglimpfung gepaart mit der Normalisierung polizeilicher Kontrollen und einem Generalverdacht gegen jüdische Familien haben den Weg zum Pogrom bereitet, stellt sie fest.

An weiteren Stationen geben Studentinnen Einblicke in das prekäre Arbeitsleben vieler vor allem migrantischer Bewohnerinnen und Bewohner des Scheunenviertels: ob mit Handkarren im Straßenhandel oder in engen Wohnstuben über Näharbeiten setzten sie für ein kleines Einkommen oft ihre Gesundheit aufs Spiel. In weiteren Beiträgen berichten Seminar-Teilnehmende unter anderem von der ersten Polizeiassistentin Henriette Arendt, die unter anderem Zwangsuntersuchungen von Prostituierten begleitete, und von Spuren des jüdischen Lebens in der DDR.

Einen besonderen Zugang haben Lisa Schmit und Bianca Scholtyssek gefunden. In den trubeligen Hackeschen Höfen präsentieren sie ihr Seminarergebnis: Ein Comic über jüdischen Tourismus in der Gegend, der oftmals eine Reise in die Familiengeschichte darstellt. Die Studentinnen haben mit jüdischen Tourguides gesprochen und Menschen interviewt, die sich aus persönlichem und familiärem Interesse auf die Suche nach jüdischen Spuren in Berlins Mitte gemacht haben.

Neben den teilweise erschütternden historischen Erkenntnissen steht die Gruppe am Tag der Stadtführung unter dem Eindruck des aktuellen Krieges in Nahost und den Reaktionen darauf. „Es fällt uns schwer heute an ein Pogrom vor 100 Jahren zu erinnern, wenn wir gleichzeitig an die Opfer des Überfalls der Hamas auf Israel denken und an die Opfer der Militäroperation in Gaza“, sagt Seminarleiterin Dr. Darja Klingenberg zu Beginn der Führung. Enttäuscht, wütend, besorgt und trauernd sei man in der Gruppe und habe durchaus unterschiedliche Ansichten. In Zeiten, in denen erneut Antisemitismus und Rassismus zunehmen und gegeneinander ausgespielt werden, erscheine ihre Veranstaltung mit dem Blick 100 Jahre zurück vielleicht hilflos. Dennoch sei die Führung eine Möglichkeit, mit ganz verschiedenen Perspektiven zusammenzukommen und mit „Herzenshöflichkeit“ einander zuzuhören, so ihre Überzeugung.

Text und Fotos: Frauke Adesiyan

Die Ergebnisse des Seminars werden demnächst auf der Webseite der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum zu sehen sein.

Kontakt

Abteilung für
Hochschulkommunikation
Tel +49 335 5534 4515
presse@europa-uni.de

Sitz:
Hauptgebäude
Räume 114-117, 102

Postanschrift:
Große Scharrnstraße 59
15230 Frankfurt (Oder)